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Türkei-Proteste: NATO-Mitglied und EU-Beitrittskandidat auf dem Weg in einen islamischen Polizeistaat?

Die gewaltsamen Unruhen in der türkischen Metropole Istanbul gehen auch nach der Räumung des seit Mai von Demonstranten besetzten Gezi-Parks mit unverminderter Härte weiter (Bericht mit Video hier). Samstag und Sonntag kam es zu Zusammenstößen zwischen den regierungskritischen Demonstranten und der Polizei. Ärzteorganisationen sprechen davon, dass seit Beginn der Protestwelle vier Menschen ums Leben gekommen sind. Mehrere Tausend sollen verletzt worden sein. Unter den Verletzten am vergangenen Samstag befand sich die Bundesvorsitzende der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“, Claudia Roth. Es sei wie im Krieg, so Roth, die selbst durch den Einsatz von Tränengas verletzt wurde.

Auslöser für die wochenlangen Proteste war ein geplantes Bauprojekt in Istanbul, für das im Gezi-Park Bäume gefällt werden sollten. Aus diesem Anlass entwickelte sich ein Protest gegen den zunehmend autoritärer werdenden Führungsstil der – allerdings durch demokratische Wahlen legitimierten – Regierung und gegen die schleichende Islamisierung unter Ministerpräsident Erdogan.

Der türkische Ministerpräsident bezeichnete die Demonstranten auf einer Großkundgebung seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP („Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) als „Terroristen“. Den ausländischen Medien warf er vor, falsche Nachrichten aus der Türkei zu verbreiten. Hinter den Unruhen stehe eine Verschwörung, so Erdogan (mehr Hintergründe in dieser Zeitungsreportage). Auffällig an der Unterstellung einer ausländischen Verschwörung ist, dass diese  Behauptung viele Staats- und Regierungschefs in der Region in der Vergangenheit erwähnten und in der aktuellen Lage nutzen: so der derzeitige ägyptische Präsident Mursi und sein Vorgänger Mubarak, Gaddafi in Libyen und Assad in Syrien. 

Verschiedene regierungsunabhängige Stimmen in der Türkei forderten ein Ende der Polizeigewalt gegen die Demonstranten. Immer wieder gibt es Berichte über den Einsatz von unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstranten. Vizepremierminister Arinc hat sich bereits vor einigen Tagen bei den Opfern von Polizeigewalt Ende Mai entschuldigt. Erdogan hingegen griff die Kritiker des Polizeieinsatzes mit den Worten an: Was fällt Euch ein, meine Polizei anzugreifen?“. Die Polizei kritisierte die Überlastung durch die Einsätze ebenfalls.

Die Türkei ist seit 1952 NATO-Mitglied. Seit 2005 finden zwischen der Türkei und der Europäischen Union Verhandlungen über einen EU-Beitritt statt (Hintergründe hier). In der Vergangenheit wurde die Türkei seitens der EU auf den Gebieten der Menschenrechte, insbesondere im Bereich Meinungsfreiheit und Minderheitenschutz, kritisiert.

Bundesaußenminister Westerwelle, der französische Außenminister Fabius und die italienische Außenministerin Bonino kritisierten in der vergangenen Woche das Verhalten der türkischen Regierung und bekräftigten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit. Der Fortgang der laufenden Beitrittsgespräche könnte durch die Proteste gefährdet sein.

Während in der gesamten Region Nordafrika und Naher Osten Demokratiebewegungen die autoritären Herrscher gestürzt haben bzw. Reformprozesse in Gang setzen konnten, scheint sich die früher stark westlich orientierte und säkular ausgerichtete Türkei in eine entgegengesetzte Richtung zu entwickeln. In den letzten Jahren wurde die Presse– und Meinungsfreiheit Schritt für Schritt eingeschränkt.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten muss die islamische Regierungspartei einen Putsch des türkischen Militärs nicht fürchten. Das westlich und weltlich – d.h. auf die Trennung von Staat und Religion bedachte – orientierte Militär sieht sich noch immer als Garant für die kemalistischen Staatsprinzipien. Nach drei Militärputschen, um die antikommunistische und antiislamische Staatsorientierung durchzusetzen, gelang es dem Militär noch 1997, den ersten islamischen Ministerpräsidenten zu entmachten. In der Regierungszeit von Erdogan entmachtete er das Militär schrittweise. Da ein erneuter Militärputsch aufgrund der seit 2011 andauernden Zurückhaltung der obersten Militärführung nicht wahrscheinlich ist, befürchtet die Regierungspartei einen „zivilen Putsch“.

 

Weiterführende Informationen:

  • Stellungnahme von „Amnesty International“ zur Polizeigewalt mit Videoaufnahmen hier
  • Videobericht der „Heute“-Nachrichtensendung über die Einschränkung der Meinungsfreiheit
  •   Analyse über die Rolle des türkischen Militärs
  •  Hintergründe zu den hohen Hürden für Parteien in der Türkei hier
  •  Karte zum laufenden Patriot-Einsatz in der Türkei