Das Ausmaß der Abhöraktionen des US-Geheimdienstes NSA in Deutschland und in Europa bleibt wohl auch weiterhin genauso im Dunkeln wie die nachrichtendienstliche Fernmeldeaufklärung westlicher Dienste und ihre Zusammenarbeit im Allgemeinen. Die US-Regierung hat der Darstellung der Bundesregierung widersprochen, nachdem die US-Regierung der Bundesregierung einer Veröffentlichung von US-Spionagelisten (Selektoren) untersagt haben soll.
In deinem bemerkenswert offenen Interview sagte der ehemalige NSA- und CIA-Direkter Hayden aus, dass man nicht nur die „Bösen“, sondern auch die „Interessanten“ ausspähe – darunter auch Deutschland.
Snowden, Selektoren und Sammelwut
Die Erkenntnislage über das bekannte Ausmaß der Spionagetätigkeiten der USA und befreundeter Staaten stellt sich nach Analyse der Dokumente des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden, Recherchen diverser Tageszeitungen sowie TV-Sender und wenig konkreten Aussagen des NSA-Direktors Rogers gegenüber dem ZDF derzeitig wie folgt dar:
- Der für die SIGINT (SIGnal INTelligence, Aufklärung der elektronischen Datenübermittlung/Fernmeldeaufklärung) zuständige US-Geheimdienst NSA (National Security Agency) hat in Zusammenarbeit mit seinem britischen Partnerdienst GCHQ (Government Communications Headquarter) seit Ende der 1990er Jahre Angehörige der deutschen Bundesregierung nachrichtendienstlich abgehört. Die letzten drei Präsidenten Frankreichs wurden ebenfalls von der NSA abgehört.
- Die deutsche Bundesanwaltschaft stellte 2014 ein Verfahren ein, mit dem gegen die US-Spionagetätigkeit gegen die Bundeskanzlerin ermittelt werden sollte.Nach Medienberichten wusste der heutige Außenminister und frühere Kanzleramtsminister Steinmeier früh von den nachrichtendienstlichen Tätigkeiten der NSA in Zusammenarbeit mit dem BND am sogenannten „Frankfurter Internet-Knoten“.
- Darüber hinaus spähen verschiedene Programme weltweit, systematisch und verdachtsunabhängig die elektronische Kommunikationssystem aus. Darunter fallen u.a. E-Mails, Fotodateien, Telefonkontakten, Datenverkehr aus sozialen Netzwerken.
- Zwischen Oktober 2001, also unmittelbar nach den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten, und Mai 2015, als die Gesetzengrundlage (Patriot Act) auslief, sammelten die NSA die Verbindungsdaten von Telefongesprächen und dem E-Mail-Verkehr in den gesamten USA.
- Die NSA spionierte neben allgemeinen und verdachtsunabhängigen Kommunikationsdaten von Bürgern auch Regierungen von Partnerstaaten, Internationalen Organisationen (z.B. IWF), Wirtschaftsorganisationen (OPEC), Internetunternehmen wie Google, Regierungsmitglieder auf internationalen Konferenzen und gezielt radikalislamische Prediger aus. Letztere sollten durch die Veröffentlichung von ihren Verbindungsdaten zu Internetseiten mit pornografischen Inhalten öffentlich diskreditiert werden.
- In Zusammenarbeit mit den Nachrichtendiensten Australien, Neuseelands und Kanadas bilden die NSA und das GCHQ die sogenannten „5 Eyes“. Das GCHQ ist der dritte Geheimdienst des Vereinigten Königreiches neben dem Inlandsnachrichtendienst MI5 und dem Secret Intelligence Service (SIS), besser bekannt als MI6.
- Das GCHQ spähte über ein belgisches Telekommunikationsunternehmen Verbindungsdaten der EU-Institutionen in Brüssel aus.
- Für die Dienste der USA ist das Ausspähen von Feinden und Verbündeten normale Praxis, die sie nicht ändern werden. Ziel ist es, ein möglichst genaues Lagebild über relevante sicherheitspolitische, wirtschaftspolitische und militärische Vorgänge und potenzielle Gefahren zu erhalten.
- Der Bundesnachrichtendienst (BND) arbeitet im Rahmen der Terrorabwehr, der Bekämpfung des Drogenhandels und der grenzüberschreitenden Kriminalität eng mit der NSA zusammen. Dem BND wird u.a. vorgeworfen, dass er mittels seiner Station in Bad Aibling die Datenkommunikation von E-Mails und Mobiltelefonen von europäischen Regierungsmitgliedern und Unternehmen ausgespäht habe.
- Der vom Deutschen Bundestag eingesetzte NSA-Untersuchungsausschuss soll das Ausmaß der Spionage durch die USA und die Zusammenarbeit deutscher Nachrichtendienste mit den USA untersuchen. Die Mehrheit des Ausschusses hat den ehemaligen Richter Kurt Graulich als Ermittlungbeauftragten eingesetzt, der die geheime Liste der NSA einsehen darf, auf der die Suchbegriffe – Selektoren – stehen, die der BND für die NSA überwachen und ausspähen sollte.
- Nach Angaben der Wochenzeitung „Die Zeit“ hat der deutsche Verfassungsschutz die Ausspähsoftware XKeysscore von der NSA erhalten; als Gegenleistung sollten sie der NSA auch Daten aus Deutschland übermitteln.
Skandal, Scheinheiligkeit und strategische Fernmeldeaufklärung
Eine der Ursachen des geheimdienstlichen Überwachungs- und Ausspähmethoden liegt in dem Versagen der US-Sicherheitsbehörden im Vorfeld der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA. Damals waren die Geheimdienst-Analysten nicht in der Lage, die viele Hinweise auf die bevorstehenden Terroranschläge zu einem konkreten Lagebild zu verdichten.
Mit der Sammlung der Kommunikationsverbindungsdaten zielen die Nachrichtendienste darauf ab, verborgene Verbindungen zwischen Personen aufzudecken und nachzuvollziehen. Nach den bekannt gewordenen Dokumenten sammelte z.B. eine Abteilung der NSA rund 440.000 E-Mail-Adressbücher von Yahoo, 105.000 von Hotmail, über 80.000 von Facebook, knapp 34.000 von Gmail und fast 23.000 von anderen Anbietern – und dies an einem einzigen Tag im Jahr 2012, wie die Washington Post hier berichtete.
Gerade in Deutschland führte die Massenüberwachung durch einen befreundeten Geheimdienst zu einer Diskussion, in der Befürworter und Gegner mit dem Argument der Scheinheiligkeit argumentierten. Die aus der Analyse der NSA gewonnen Erkenntnisse sollen demnach auch dazu geführt haben, Terroranschläge bereits im Vorfeld zu verhindern, so z.B. auch den geplanten Anschlag der dschihadistischen „Sauerland“-Gruppe im Jahr 2007 und die der „Düsseldorfer Zelle“ 2011. Weitere lesens- und sehenswerte Diskussionsbeiträge finden sich hier und hier.
Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND führt ebenfalls eine strategische Fernmeldeaufklärung durch. Bemerkenswert ist eine Antwort der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“ im Deutschen Bundestag, dass es beim BND keine Statistik gebe, wie viele Ermittlungsergebnisse zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straftaten (z.B. Terroranschläge) beigetragen hätten (s. Antwort auf Frage 14, Seite 8 der Antwort der Bundesregierung).
Schattenkrieg und Black Ops
US-Verteidigungsminister Carter führte in einem Video-Interview die Bedeutung der Cyber-Sicherheit (ab 2:48) für die Kriegsführung kurz aus, wie im folgenden Video zu sehen (NSA-Affäre ab Minute 14:50).
Carter betont die Bedeutung der elektronischen Netzwerke sowohl für die Fähigkeit der eigenen Truppen, aber auch für die Sammlung von Erkenntnissen über die Gegner, insbesondere die Dschihadisten, die das Internet zur Organisation und Rekrutierung nutzen.
Die unterschiedlichen Nachrichtendienste verschiedener Staaten vollziehen dabei eine Art „Schattendiplomatie“, in dem sie mit ihren Erkenntnissen handeln ohne dabei kontrolliert zu werden, so eine Einschätzung der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin (eine weitere Analyse ist an dieser Stelle zu finden).
Strategische Aufklärung dient politischen Entscheidungsträgern als Informations- und Handlungsgrundlage. In erster Linie fungiert nachrichtendienstliche Tätigkeit als Vorwarnung und Früherkennung von Bedrohungen. Die Befürworter intensiver nachrichtendienstlicher Tätigkeiten betonen, dass die tägliche Analysearbeit Terroranschläge im Inland verhindern könne, so argumentiert zum Beispiel das GCHQ an dieser Stelle.
Noch bedeutender sind Erkenntnisse der Nachrichtendienste im militärstrategischen und -taktischen Bereich. Nachrichtendienstliche Erkenntnisse aus vielerlei Quellen sind eine der Erfolgsfaktoren bei militärischen Spezialoperationen. Auf Grundlager gewonnener Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen gelang es beispielsweise
– israelischen Marine-Spezialkräften ein Schiff mit Waffenlieferung an die Hamas zu entern,
– „Delta“-Spezialkräften der US-Streitkräfte konnten so einen Terrorverdächtigen ergreifen und
– Usama Bin Laden in Pakistan aufspüren und töteten.
Vor wenigen Wochen töteten Operators der „Delta“-Einheit des US-Heeres in Syrien eine hochrangige Führungsfigur des „Islamischen Staates“ namens Abu Sayyaf, wie K-ISOM hier meldete. Für die Führungsebene der Spezialkräfte der USA erhöhen Aufklärungsergebnisse aus verschiedenen Quellen die Effektivität und Durchschlagsfähigkeit von verdeckten Operationen. Je umfangreicher und besser ausgewertet die Erkenntnislage ist, desto genauer können militärische Operationen und Spezialeinsätze durchgeführt werden. Für die Regierung der USA und ihrer Verbündeten bedeutet dies konkret: es müssen weniger „Boots on the Ground“ eingesetzt werden.
Die NSA formuliert es in einem ihrer veröffentlichten Strategiepapiere ähnlich: für die NSA stellt SIGINT „DEN entscheidenden Vorteil“ dar, um „die Geheimisse unserer Feinde zu entschlüsseln.“
K-ISOM berichte hier über die nachrichtendienstlichen Methoden der US National Security Agency (NSA) und hier, hier und hier über die Probleme der Nachrichtendienste in Deutschland.
Weiterführende Links:
– ARD-Reportage „Schlachtfeld Internet“
[ej]